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Ethik auf Wanderwegen
I.
Aus bestimmten Kreisen, so bei der Politik und sogar der großen Geschäftswelt und sonst in den Medien, hallt seit einiger Zeit der Ruf nach Ethik und Moral. Es wird auch gerne nach einer Rückbesinnung auf Werte und sogar auf Tugenden gerufen. Es hallt hohl.
Die Menschen, die diese moralisierenden Parolen von sich geben, waren mehrheitlich bisher nicht imstande, mehr als einen Mischmasch an halbfertigen Gedanken zu formulieren, eigentlich keine Gedanken, eher fromme Wünsche, die an jeder Wirklichkeit vorbeigehen.
Es ist für unsere Gesellschaft — nein, für unsere ganze Kultur — beschämend, dass ausgerechnet unsere vorgeblichen Leitfiguren eine geistige Armut aufweisen, die so stark mit der vermeintlichen Professionalität und mit dem wissenschaftlichen Anspruch ihres Umtriebes kontrastiert.
Die folgenden mehrere Dutzend Seiten nehmen sich vor, doch die Leitlinien zu zeichnen, die jedes Nachdenken zu diesem lebenswichtigen Thema prägen müssen, ohne aber schnelle Schlussfolgerungen und leichte Urteile zu liefern.
II.
Wir machen einen Gang durch eine Landschaft, dann eine Wanderung und anschließend laufen wir kreuz & quer, wobei wir die gleichen auffälligen Merkmale immer wieder ins Visier nehmen und kommentieren, aber aus verschiedener Perspektive. Somit wird uns nach & nach diese Landschaft der Ethik vertraut, und wir merken vielleicht, dass wir sie doch schon immer halbwegs gekannt haben. Wie sollte es anders sein?
Mit der Landschaftsmetapher will gesagt werden, dass es keinen systematischen Ansatz gibt: es ist unvermeidlich, dass die Wege sich kreuzen und sich sogar kurz wiederholen.
Es geht nicht vordergründig darum, die Geschichte der Landschaft zu erforschen. Es wird nichts unnötig verkompliziert, womit gesagt wird, es gelte, die Dinge so einfach wie möglich zu machen, aber auch nicht einfacher (so der große Physiker). Trotzdem soll ein wenig Eleganz mit dabei sein.
Es macht keinen Spaß und nützt wenig, wenn man im Sumpf stecken bleibt. Es ist auch nicht Sinn & Zweck einer Wanderung, sich zu verlaufen oder im kleinsten Kreis zu drehen. Eine Wanderung ohne Ende bereitet ebenfalls keinen Spaß. Viele Moralphilosophen möchten aus ihren Lesern angehende Philosophen machen. Zu diesem Zweck wird gern die Verunsicherung gepflegt. So soll man ihnen zufolge es nicht bei einem guten Buch oder Studiengang belassen, sondern sich immer weiter und wieder in diese eine Richtung anstrengen.
Die vorliegenden Ausführungen haben im Gegenteil den Ehrgeiz, allein einen ausreichenden Überblick über die Ethik zu liefern und zwar so, dass die Leser sich anschließend wieder dem eigenen Leben zuwenden können, jetzt befreit von moralischen Missverständnissen und gewappnet gegen die Moralprediger. Dafür ist ein wenig Geduld und Aufmerksamkeit vonnöten, die erste Landschaftserkundung hat aber bald ein Ende. Später kann man die Wege erneut laufen und für sich feststellen, wie der frühe Nebel sich aufgelöst hat.
III. Erster Wanderweg
Die einen sprechen von Ethik, die anderen von Moral, und viele sprechen von Moral & Ethik in einem Atemzug. Die einen tun so, als ob diese beiden eine Einheit bilden, und andere geben vor, einen Unterschied zu machen, den die Leser oder Zuhörer zu wissen haben: Bestimmt wird sich keiner die Blöße geben, den Unterschied nicht zu kennen.
Es ist tatsächlich nützlich, die beiden Begriffe zu unterscheiden, man muss sich aber nicht an diesen Worten festbeißen. Der Verschleiß durch ständigen Missbrauch ist ohnehin bereits weit fortgeschritten und kaum noch aufzuhalten.
So kann man das Wort Moral gern für die Kennzeichnung der Sitten nehmen, also für die überlieferten Gewohnheiten, die eine bestimmte Gesellschaft für gut hält. Nach Ansicht des betreffenden Volkes handelt es sich um die Sitten, die die Gesellschaft halt zusammenhält. Ein anderes Volk oder sogar das gleiche Volk zu einer anderen Zeit mag die Sitten anders werten. Man sieht dies sehr deutlich bei dem Wandel bzw. bei der Vielfalt der Sexualmoral über die Länder und Kulturen hinweg. Es betrifft aber alle anderen Lebensbereiche auch.
Ein Konflikt entsteht, wenn die Sitten sich in die Quere kommen. Romeo liebt Julia und sie ihn, aber die Familien sind verfeindet und es gehört sich nicht, sich mit dem Nachkommen der Feinde zu vermählen. In einem anderen Fall vermehrt sich ein Volk mit der Folge, dass die vorher gut funktionierende Regelung der Erbfolge und der Aufteilung der Ländereien nicht mehr tragbar ist. Am häufigsten kommt vielleicht vor, dass zwei Völker aufeinander stoßen und sich mit unverträglichen Sitten anstecken.
So oder so kommt es in jeder Generation zu einer kritischen Überprüfung der Sitten. Die Dichter und Denker eines Volkes sehen sich gezwungen, über die überlieferten Gepflogenheiten nachzudenken, diese zu sichten, und auf Veränderung hinzuwirken. Für diese Reflektion und Erneuerung kann man gut das Wort Ethik benutzen.
IV.
Bei ihren Äußerungen zu Moral & Ethik lassen sich die einflussreichen Mitglieder der Gesellschaft von verschiedenen Motiven leiten. Diese Wortführer sind selten die besten Dichter und Denker: Sie können reiche Menschen sein, die reicher werden wollen; oder mächtige Menschen, die eine noch vermehrte Macht an die Enkelkinder weitergeben wollen. Gesetzt aber der Fall, dass es sich um weise Menschen handelt, haben sie womöglich im Hinterkopf eine vage Vision von dem, was alles für eine gedeihende Gesellschaft förderlich ist und wie die unterschiedliche Lebensführung der Einzelnen dazu beitragen müsste. Somit kann sich eine Richtung für die Entwicklung einer Gesellschaft ergeben, anstatt dass sie sich vom Zufall oder von einer momentanen Schieflage treiben lässt.
V.
Ein deutscher Philosoph hat für viel Unfug besonders im eigenen Lande gesorgt. So wird er gern von Moralpredigern und anderen zitiert bzw. diese nehmen gern auf seine kategorischen Imperative Bezug. Es ist nicht hier Ort und Stelle, sein großes Werk feinfühlig und gebührend zu würdigen. Es geht allein darum, mit einem vor allem von ihm stammenden Grundfehler aufzuräumen. Es geht um die Verwechslung von Gesetzmäßigkeit und Moral.
Wir haben es hier mit einem Ineinandergreifen der Konzepte und Begebenheiten zu tun, die sich erst mit etwas Anstrengung auseinanderflechten lassen.
Wenn man die Sitten — also die überlieferten Handlungsweisen —befolgt, so hält man sich bewusst oder unbewusst an Regeln. Insoweit besteht hier eine Gesetzmäßigkeit. Von der Struktur her ist es wenig anders, wenn ein Gesetz (d.h. im Rechtsstaat) befolgt wird. Beim Gesetz darf man annehmen, dass es sich um präzise formulierte Sitten — oder auch Verbote — handelt, wo der Konsens sehr groß ist bzw. deren Notwendigkeit allseits anerkannt ist. Das Thema an dieser Stelle ist aber nicht die Unterscheidung Sitte und Gesetz, sondern die Unterscheidung Regelbereich oder Nicht-Regelbereich.
Ethik wird schwierig, weil sie ein weites Grenzgebiet zwischen diesen beiden Bereichen abdeckt. Manchmal will man Handlungen, die bisher im Ermessen der einzelnen Akteure lagen, auf einmal regeln. Zum Beispiel soll das Rauchen in geschlossenen Räumen nicht mehr erlaubt sein. Das Verbot kann rechtlich verfügt werden, oder aber kann es in der Weise durchgesetzt werden, dass aus Angst vor der Ächtung keiner sich mehr traut, in geschlossenen Räumen zu rauchen.
Andererseits kommt es vor, dass ein bisher geregelter Bereich auf einmal dem Ermessen der Einzelpersonen überlassen wird. Ein Beispiel wäre die Sonderstellung des Sonntags oder sonstigen Ruhetages, die ja auch von vielen nicht-religiösen Menschen geschätzt wird. Ein anderes wäre die Duldung des Ehebruchs, der ja bei uns nicht mehr juristisch ins Gewicht fällt.
Bei diesen Beispielen sollte man sich die Sprache der Empörung vergegenwärtigen, mit der die Befürworter und Gegner ins Feld ziehen. Schnell kommen große Begriffe zu Wort, wie unmoralisch und unethisch, Wortbruch, unverantwortlich, egoistisch, oder andererseits der Ruf nach Freiheit, Persönlichkeitsrecht, Toleranz, und dergleichen mehr.
Es empfiehlt sich beim Vernehmen dieser Wörter gleich auf der Hut zu sein: Meistens handelt es sich um Kurzschlüsse. Das heißt, diese wertenden Wörter tun sich dar, als ob sie etwas sachlich beschreiben würden und damit das Argument entscheiden. Man soll sich jeweils zuerst fragen, ob derjenige, der ein solches Wort in den Mund nimmt, ein Recht darauf hat. Versteht er das Wort eigentlich, oder hat er nur gelernt, dass es sich gewaltig anhört? Wir kennen alle den Egoisten, der den anderen den Egoismus vorwirft; und so weiter. Wir kommen ohne diese Begriffe zwar nicht ganz aus, ständig aber werden sie zweckentfremdet, um das Denken abzukürzen, und somit werden sie faul: selbstgefällige Ausreden für Denkfaule. Sie beinhalten dann wenig mehr als ein subjektives Ja oder Nein.
In dem großen Grenzgebiet zwischen dem, was Regeln unterliegt und dem, was uns alles als Einzelentscheidern überlassen wird, spielt eine Überlegung groß mit, die gerne im moralisierenden Gerede verschwiegen oder geächtet wird: Es ist trotzdem offensichtlich, dass wir als Einzelakteure uns Gedanken machen, nicht nur über das Verhalten, das für die Allgemeinheit nützlich wäre, sondern über die Beweggründe, die uns persönlich bei unserem Handeln bestimmen oder bestimmen sollten.
So mag man sich entscheiden, die Gesetze und (meist halbwegs aufgezwungene) Verträge einzuhalten, nicht, weil man mit diesen einverstanden ist, sondern weil man sich die Folgen der Nichteinhaltung vergegenwärtigt. Man hat gelernt, die Umgangsformen seiner Umgebung einzuhalten, und zwar nicht aus innerer Überzeugung, sondern weil man auf das Entgegenkommen der Anderen angewiesen ist. Andererseits muss man auf der Hut sein: Die Gesellschaft insgesamt und die Menschen, mit denen man Umgang hat, sind nicht abgeneigt, den Friedfertigen und Gutmütigen auszunützen. Sie tun dies gerne mit moralisierenden Worten. Sie appellieren an seine Anständigkeit, seinen Altruismus, sogar an seine Opferbereitschaft. Sie stellen Lob und Langzeitvorteile in Aussicht. Hallt hohl.
VI.
Unsere Wanderung ist somit auch manchmal eine Gratwanderung. Jeder muss für sich herausfinden, welche Wege er gehen kann und will, und auf welches Ziel hin: wo er sich ablenken lässt, klein beigibt und wo er sich behaupten will. So hört es sich allmählich wie eine Kunst an. Eine Wissenschaft kann es jedenfalls nicht sein.
Wenn wir keine isolierten Individuen sind, die ohne gemeinschaftlichen Bezug leben, so lebt die Gesellschaft auch nur dadurch weiter, dass die sehr unterschiedlichen Menschen jeweils den Weg in eine Nische der Gesellschaft finden. (Und die Gesellschaft hat zunehmend nur noch Nischen.) Gab es früher Gesellschaften, wo der Lebensweg von Geburt an vorgezeichnet war, so befinden wir uns heute in einer Welt, die zwar weniger Freiheit anbieten mag, als sie vorgibt, uns aber innerhalb unbestimmter wenn doch realer Grenzen dem eigenen Weg und der eigenen Willkür überlässt.
VII.
Es ist natürlich nicht der Fall, dass es in dem regelfreien Raum nichts zu sagen gibt, im Gegenteil: Gerade hier können präzise Hilfestellungen ausgesprochen werden. Es handelt sich aber immer weniger um Verallgemeinerungen. Da nützen die Richtungsangaben zum Norden, Süden, Osten oder Westen hin nichts, denn man müsste zuerst den eigenen Standort bestimmen (Identität und Eigenarten) und für sich — magnetisch fast — merken, wo man hingezogen wird. Hingezogen wird man dorthin, wo die meisten Anderen nicht angesiedelt sind, sonst wäre ja kein Platz vorhanden. Die Gesellschaft lebt eben davon, dass wir nicht alle gleich sind. Ein Volk der Bäcker gibt es nicht, und auch kein Volk der Mechaniker. Es gibt nicht einmal ein Volk der Gutmütigen — und dies nicht, weil die Menschen böse oder depressiv sind, sondern weil dann die Dynamik fehlen würde. Ohne unterschiedliche Talente und Temperamente, ohne unterschiedliche Vorlieben und Horizonte gibt es halt keine Gesellschaft. Dann versteht es sich, dass wir uns im Leben auch nicht nach einem moralischen Regelbuch zu verhalten haben.
Ein Grundfehler des gern zitierten preußischen Philosophen war ja die Verwechslung von subjektiver Gesetzmäßigkeit und Moral, von Regeldenken mit Lebensführung. Dieser Irrtum irrt noch immer durch die Gegend. Viele stellen sich Moral vor, als ob diese eine informelle Gesetzgebung wäre.
Das Gesetz — das Recht — genießt als vermeintlicher Konsens über Gut und Böse hohes Prestige. Man verwechselt dann immer wieder gesetzeskonform mit moralisch, obwohl man aus der Erfahrung, wenn nicht aus der Theorie, es eigentlich besser weiß. Die Sitten ließen sich freilich als informelle Gesetzgebung auffassen, d.h. ausformulieren und niederschreiben. Schon mit der Sittlichkeit steht es anders, denn eine Sitte muss nicht gut sein. Ein Gesetz natürlich auch nicht.
Es kann darüber debattiert werden, ob man schlechten Gesetzen gehorchen sollte, gesetzt der Fall, dass die Überschreitung voraussichtlich straffrei ausgeht. Es handelt sich eher um eine politische als um eine moralische Frage. Man kann ähnlich die Frage stellen, ob bzw. inwieweit man die vorherrschenden Höflichkeitsformen einhalten soll, wenn diese nur noch Heuchelei bedeuten und nicht mehr der Schonung der Mitmenschen dienen.
VIII.
Eigentlich gibt es kaum Regeln für die Lebensführung, höchstens einige Verbotszonen. Der Preuße meinte, der Mensch (im Gegensatz zum Tier) sei ein Vernunftwesen, also rational, und müsse sich somit Regeln unterordnen, wenn auch nur (als selbstbestimmender Souverän) den eigenen. Dahinter steht ein recht anfechtbares Konzept der Rationalität. Der Schotte im Gegenteil, der den Preußen aus dem Schlummer geweckt hat, meinte, die Vernunft sei der Sklave — oder der Knecht — der Leidenschaften. Er meinte ferner, wir hegen eine natürliche Empathie für unsere Mitmenschen. Wir empfinden das Leid der anderen, wenn nicht gleich am eigenen Körper, so doch im Geiste. Aus dieser Quelle rühren unsere moralischen Empfindungen, gegebenenfalls unsere Entrüstung und anschließend unser altruistisches Handeln.
Damit kommen wir nicht zum letzten Mal zum Begriff des Selbst. Wo grenzen wir uns von anderen ab? Eine beliebte Angriffsfläche der Moralprediger ist der Egoismus — wohl nicht aber das berechtigte Eigeninteresse! Die Dinge sind wiederum filigraner — verfänglicher — als man sich gedacht hätte. Seine Nächsten kann man als Teil seiner selbst auffassen: für diese gibt man alles. Dazu rafft man alles von Fremden. Oder auch nicht. Es wurde manchmal im hohen Zeitalter der Romantiker von der Reinheit und Hoheit der Liebe gesungen, aber wenig darüber, dass unsere Energien verteilt werden sollten und mussten und müssten.
IX.
Wenn wir schon so schön unterschiedlich sind, so dann nicht nur, dass die Bäcker Frühaufsteher sind und die Nachtwächter spät zugange: Auch unsere Tugenden sind verschieden und müssen es sein. Ein Mensch kann physisch ein Feigling sein, und doch sein Land retten: Gut, dass ein Aufmupfige Geduld und Weitsicht hatte.
Ein Grieche hat damals die Tugenden gleichzeitig gelobt und relativiert. Es können nicht alle mutig sein, denn wie hoch oder niedrig der Maßstab auch angesetzt wird, so sind einige immer mutiger als andere, und der Übermut kennt ohnehin keine Grenzen. Es ist nicht anders mit der Großzügigkeit, bei der es in manchen Kulturen zu einem Wettbewerb kommt und die schließlich auf Kosten der Bescheidenen und der anderen Lebensbereiche geht. Die Bescheidenheit selber muss ihre Grenzen erkennen, sonst wird sie zu einer Einladung auf Ausnützung und Geringschätzung. Und so könnte man alle vermeintlichen Tugenden auf ihre Tüchtigkeit hin abklopfen.
Eine Tugend ist ein Vergleichswert, der sich an dem Mittel misst. Es können nicht alle Menschen liebevoll sein, sonst wüssten wir nicht hin mit unserer Liebe. Der gerechte Mensch würde sein Kind verbrennen lassen, während er die Kinder der Anderen vor dem Brand rettet. Wenn die Toleranz über alles geht, haben auf kurz oder lang nur noch die Extremisten das Wort. Die Gnade setzt auch den Wiederholungstäter auf freien Fuß. Es gibt zudem die beiden Freunde, die sich bei ihrer Treue keine Grenzen setzen, es sei denn eine Freundin im Spiel ist, und dann leider doch. Fleiß kann im falschen Dienst arbeiten. Skepsis wird zum Zynismus, Gutgläubigkeit zum Schicksal. Der Aufrichtige wirkt verletzend, der Ehrliche verrät das Geheimnis, und der Sanftmutige hat die schlimme aber erforderliche Botschaft verschwiegen. Eine Tugend ist schließlich kein Vergleichswert, der nach dem Mittelmaß strebt.
Dann fällt der Ruf der Moralprediger (Politiker, angehende Staatsmänner, Geschäftsleute von großen Konzernen, Kirchenleute, Schauspieler, Scharlatane) nach Tugend und Tugenden zu Recht auf taube Ohren. Tönt hohl.
Die Gesellschaft braucht nicht nur den Mutigen, sondern auch den Ängstlichen, der zu Vorsicht mahnt: Dieser ist es womöglich, der die Katastrophe verhindert und somit den Mutigen seiner Sternstunde beraubt. Die Gesellschaft braucht nicht nur den Großzügigen, sondern auch die Sparsamen, sonst gäbe es nichts zu spendieren. Die Gesellschaft braucht nicht nur die Gerechtigkeit, sondern auch die Einsicht, dass wir zunächst unseren Nächsten beistehen wollen.
Aus psychologischer und sogar logischer Sicht kann man weiter gehen und mutmaßen, dass jede Tugend eine Schattenseite hat, und somit mag umgekehrt in jedem Laster ein Funke der Tugend stecken. Wo kommt sonst die Triebfeder her, dass jemand sich auf einem Spektrum auszeichnet, auf anderen nicht? Das Lamm wird zum Löwen, der Schwan zur Ente. Vielleicht hat er, der sich doch besser als andere kennt, seinen Fehler erkannt, und er überkompensiert diesen. (Ob aber das Lamm jemals zur Ente wird?)
Oder sagen wir es so, dass die Tugenden zweischneidig sind. Ist nun z.B. die Toleranz an und für sich eine Tugend, oder eher ein moralischer Fehler? Ist es nicht vielmehr so, dass solche Worte alleinstehend keine Bedeutung haben? Sie erhalten erst im größeren Kontext einen Sinn und eine Berechtigung.
Wäre es denkbar, dass jemand über alle Tugenden verfügen würde? Hatte Jesus auch Humor? Kann es sein, dass wir nur weit in eine Richtung kommen, wenn wir auf andere Wege verzichten? Sogar innerhalb einer Tugend mag man Widersprüche erkennen: Wer sich tapfer in der Schlacht behauptet, mag den Mut nicht haben, Wort für die ungeliebte Sache zu ergreifen.
Die Tugenden sind im übrigen untereinander zu sehr verschieden, als dass man sie eigentlich unter einer Hut bringen kann. So weiß unsereiner womöglich beim besten Willen nicht, ob die Tapferkeit in ihm steckt: Das zeigt erst der Anlass. Und einmal tapfer sein, heißt nicht, es immer oder wiederholt sein. Bei dem Fleiß oder bei der Gewissenhaftigkeit steht es vollkommen anders. Das hat man für sich herausgefunden, und andere wissen es auch.
Anscheinend ist Tugend wenig mehr als ein Ehrenname für Eigenschaften oder Verhaltensmuster, die mal gebraucht werden und mal nicht. Es ist nicht einmal klar, was sich alles als Tugend ausweisen darf. Ist Integrität eine Tugend, und wenn schon, wie lässt sie sich definieren und erkennen? Oder handelt es sich nur um eine Umschreibung für Aufrichtigkeit? Natürlich kann man das Vorhandensein der einzelnen Eigenschaften und Verhaltensmuster erkennen und gegebenenfalls . begrüßen, nur ist der Oberbegriff Tugend wenig hilfreich, wenn man eine Aufforderung aussprechen will. Bei dem Wort Tugend handelt sich um einen Topf, in den man allerlei, das eigentlich nicht zusammenpasst, vorübergehend wirft. Man könnte ebenso gut von Stärken sprechen, wohl wissend, dass manchmal aus einer Stärke eine Schwäche wird und umgekehrt. (Im Schmelztiegel geht mit der Kartoffelstärke jeder feinfühlige Geschmack — die Vitaminen und Spurenelemente auch — verloren.)
Nützlicher als die Tugenden wären vielleicht die Laster — als analytische Kategorie, versteht sich. Dazu gehören in unserer Zeit die Habgier, der Hochmut und die Feigheit. Diese lassen sich aber offenbar weniger hoffähig in der Öffentlichkeit angreifen als die Tugenden sich loben lassen.
X.
Bei dem ganzen Gerede fehlt eine Tugend, die im Deutschen keinen richtig gängigen Namen hat. Ohne diese sonderbare Tugend aber sind die anderen wie verloren. Auf Englisch heißt sie good judgement oder auch sense of judgement, und dieses Wort judgement kommt in den englischen Medien bei fast jeder Diskussion über ethische und verwandte Themen vor. Es heißt so viel wie ermessensmäßige Abwägung, sensible Urteilsbildung oder auch Urteilskraft oder praktisches Urteilsvermögen.
Judgement will gelernt, gepflegt, kultiviert werden. Manche Menschen mögen instinktiv ein Gefühl dafür haben, die meisten aber brauchen viel Lebenserfahrung, Austausch und Rückbesinnung, um dieses Feingespür zu erlernen; und dessen Anwendung im Leben braucht viel Geduld. Ob man dabei ist, selber zwischen Handlungsalternativen zu wählen oder aber Urteile über andere Menschen bzw. deren Verhalten zu bilden, ist diese Fähigkeit, kleine Unterschiede zu erkennen und zu gewichten, — dieses Vermögen, sowohl das Detail als auch das große Bild im Auge zu behalten, — mit die wichtigste Voraussetzung für die Ethik in der Praxis.
Ohne Judgement kann man die Regeln nicht auslegen, da wo Regeln das Wort haben. Ohne Judgement kann man die Regeln nicht nach Priorität ordnen, denn die Rangordnung ist immer neu, soweit auch sie nicht geregelt ist. Erst mit Judgement kann man für sich abschätzen, wann man auf die Regel verzichten muss.
XI. Zweiter Wanderweg
Lange bevor wir uns eine eigene Theorie über Recht und Unrecht, über moralisches und unmoralisches Handeln verschafft haben, sind uns bestimmte Vorstellungen darüber intuitiv geläufig. Die neueste Forschung hat dies bei Beobachtungen auch von sehr jungen Kindern im Keime festgestellt. Die Fähigkeit, sich moralisch zu empören, wächst sozusagen mit uns auf.
Nachher lernen wir explizit oder unbewusst Regeln kennen, die wir verinnerlichen und an die wir uns halbwegs halten. So wird uns zum Beispiel gesagt, dass man bis auf Ausnahmesituationen nicht lügen soll. Und ähnlich geht es beim Losschlagen auf die Mitmenschen, beim Respekt des Eigentums oder bei der gerechten Verteilung des Kuchens zu. Später wird es komplizierter, und diese ersten — naiven Vorstellungen werden von unzähligen anderen — teils chaotischen und jedenfalls ungeordneten Einsichten — überlagert. Mit der Reife entstehen unter Umständen ausdrückliche, mehr oder weniger ausgestaltete Theorien — vielleicht religiösen, vielleicht halbwegs philosophischen Charakters — um die dann gerne gestritten wird.
Dazu mag ein Bild hilfreich sein. Wir kennen alle das Prinzip der Überlagerungen, die in der Geologie oder auch bei der Archäologie vorkommen. Eine Schicht wird im Laufe der Zeit von einer anders gearteten Schicht überdeckt, die selbst langsam unter zahllosen anderen, neueren Schichten verschwindet. Mal kommen — etwa durch Erdrutsch, Erdbeben oder Ausgrabungen — längst verschollene Schichten wieder an die Oberfläche.
So kann man auch den Aufbau der moralischen Empfindungen und Perspektiven auffassen. Es geht nicht allein um das Erkennen von dem, was in einer bestimmten Situation moralisch geboten ist, sondern gleichfalls um die Triebfedern, die die einzelnen Betroffenen motivieren können, so oder auch anders zu handeln. Viele dieser Triebfedern entstehen lange bevor wir uns diszipliniert haben, die Sachen vernünftig oder vorausschauend zu durchdenken.
Im sozialen Umfeld lernen wir die Umgangsformen vorwiegend als Regeln kennen, auch wenn wir meistens nicht imstande sind, die eingehaltenen Regelmäßigkeiten bzw. Gewohnheiten als Regeln zu formulieren. Hinzu kommt später das Wissen um die Gesetze, deren Einhaltung mit staatlicher Gewalt beziehungsweise deren Androhung durchgesetzt wird.
Natürlich sind nicht alle gebotenen oder vernünftigen Handlungsweisen im Rahmen von Regeln einzuordnen. Nicht nur müssen die Regeln ausgelegt werden, sie kommen sich auch in die Quere, und zumal fehlt die Motivation, sie überhaupt einzuhalten. Aus den Regeln werden mal Prinzipien abgeleitet, oder anders gesagt: es werden Regeln über die Gestaltung und Deutung von Regeln aufgestellt. Das Ganze ist wenig überschaubar, und der erwachsene Mensch muss und will öfters doch auf die eigene Intuition zurückgreifen. Dabei muss Intuition nicht mehr bedeuten als die unbewusste Wahrnehmung — die Ahnung — von halbwegs vergessenen, verschollenen Schichten vom Erlernten.
Es gibt zwei gravierende Probleme mit der Reduktion unserer Handlungen auf Regeln. Zum einen verhindert in vielen Situationen die Fülle der Regeln bzw. der erforderlichen Ausnahmeregelungen eine überschaubare Lösung. Zum anderen fehlt des Öfteren ein Beweggrund, Regeln einzuhalten.
Damit tut sich eine Kluft auf zwischen der gebotenen Handlungsweise nach Gesetz & Sitte einerseits und den vernünftigen, vorteilhaften oder auch gebotenen Handlungsweisen andererseits. Diese Zwiespältigkeit lösen wir provisorisch, indem wir die Geltungsbereiche des Gesetzes und der Sitten einschränken. Außerhalb dieser Geltungsbereiche sollen und müssen die Menschen als Einzelpersonen für sich entsprechend ihrer Urteilskraft entscheiden, wie sie handeln — und leben — wollen.
Allerdings sind die Geltungsbereiche nicht stabil: mit jeder Generation werden die Grenzen ein wenig anders gezogen, mal mit mehr individueller Freiheit, mal mit größerer Bevormundung, und dies nicht flächendeckend sondern je nach Lebensbereich anders.
XII.
Geht es ohne Regel? Oder gibt es eine Regel, die alle anderen Regeln zusammenfasst? Wir handeln aber selten bewusst nach Regeln, es sei denn beim Arbeitsplatz oder beim Backen. Andererseits haben wir unsere Gewohnheiten, die so fest verankert sind, wir merken sie nicht mehr und wären nicht imstande, sie nur halbwegs aufzulisten. Das gilt sogar für unser Denken.
Wie soll man sich richtig entscheiden, wenn die Entscheidung schwer fällt oder die gängigen Regeln versagen? Die einen sagen, man soll sich an den Folgen orientieren. Die anderen behaupten, man soll gerade dies nicht tun, sondern sich nach einem Menschenbild richten. Zum Menschenbild, das nicht selten aus einem religiös geprägten Verständnis herrührt, auch lange nachdem die Überzeugungen abgelegt wurden, kann zum Beispiel der Glaube an die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens gehören.
In vielen Fällen kommen die beiden Denkweisen praktisch zum selben Ergebnis. Es bleiben die wenigen aber viel besprochenen Fälle, wo die Urteile auseinander gehen. Wenn man nicht gerade persönlich mit einem solchen Dilemma konfrontiert ist, kann man getrost auf eine Lösung verzichten. Sonst soll man für sich behalten, dass manche Situationen eben so verzwickt sind, dass jede Lösung unbefriedigend ist. In philosophischen und anderen Kreisen geht viel Energie auf diese Dilemma, die vielleicht besser an anderer — wenn weniger aufregender — Stelle aufgewendet wäre.
Es gibt wohl keine Strategie, keine Antwort, keine Lösung bei den schwierigsten Knackpunkten. Jeder entscheidet für sich, oder es setzt sich in der Gesellschaft eine bestimmte Linie durch. Meistens machen wir eine Mischkalkulation, die für die Puristen unsauber ist, für die Praktiker akzeptabel. Wir schauen nach dem Menschenbild, aber wir schielen auch auf die Konsequenzen. Wir berücksichtigen die Absichten, wissen aber, dass wir nicht einmal die eigenen Absichten voll wahrnehmen, ganz zu schweigen von den vermuteten oder erklärten Absichten der Anderen. Der preußische Philosoph meinte, es käme allein auf den guten Willen an. Er schrieb aber in einem Zeitalter, in dem man die Psychologie nicht richtig wahr haben wollte, als diese nämlich noch nicht in Gang gekommen war. Sein Wille ist ein seltsames Tier, wie auch seine Vernunft.
Es gibt wohl keinen Hebel — und sei er noch so abgehoben — mit dem wir das schwere Gewicht der persönlichen Verantwortung von uns heben können; mit dem wir unsere Verantwortung getrost an die Logik oder das Kalkül abgeben und uns nicht mit dem Schicksal abzufinden haben. Es gibt kein Patentrezept. Die Vielfalt der Kriterien für gut oder richtig widerspiegelt die Vielfalt der Menschen und die Unmöglichkeit, alles unter einen Hut zu bringen.
Es gibt somit keinen sicheren Ort, wo das Gute sich immer aufhält; kein universelles Maß für das ethisch Richtige. Wenn einer das Gegenteil behauptet, so muss er vorführen, wo dieser Ort (dieses Maß) denn ist. Es ist bisher keinem gelungen, und wird auch keinem gelingen, denn das Gute ist ein Nomade: unbestimmbar und unermesslich. Im Alltag braucht uns das nicht ungebührend zu stören. Abgesehen von unseren unmittelbaren Lebensumständen wissen wir nicht, wo wir herkommen, wo wir hingehen, und trotzdem leben wir, mal gut, mal weniger gut.
XIII.
Wie gut müssen wir sein? Wie viele moralische Entscheidungen kann man in einem Tag, in einem Jahr bewältigen?
Es gibt Wortführer, die uns weismachen wollen, wie wir unser Verhalten immer verbessern können; und diejenigen unter uns, die zu Gewissenhaftigkeit neigen, mögen auf sie hören. So wird das Leben zum Hürdenrennen, wo man an jeder Hecke einen moralischen Faux Pas begeht, einen Anderen verletzt, ungerecht behandelt oder belästigt. Wo hört die Empfindlichkeit auf, die eigene und die der Anderen?
So langweilig es auch klingen mag, gilt es, einen Mittelweg zu gehen, wenn nicht ganz in der Mitte, dann davon nicht weit entfernt. Es gibt Gründe dafür. Schlechten Menschen kann man verzeihen; guten nicht. Denn man meint an ihnen zu merken, dass man minderwertig ist. Die Mitmenschen versuchen dann doch einen kleinen Fehler bei den Vorbildlichen zu entdecken und setzen darauf, diesen — wie ein Loch — zu vergrößern. Oder aber es wird die Gutmütigkeit — das Entgegenkommen, die Rücksichtnahme — der Wenigen einfach ausgenützt. Meistens beides.
Damit wir uns nicht ständig um moralische Entscheidungen kümmern müssen, haben wir und Andere im Laufe des Aufwachsens und der Jugendjahre an unserem Charakter gebastelt. Es haben sich bei uns Gewohnheiten gefestigt, die unterschiedlich gut sind. Wir denken meistens nicht mehr über sie nach. Ein Wendepunkt im Leben kann uns dazu anregen, einige Gewohnheiten ändern zu wollen. Dann müssen wir in der Folgezeit daran arbeiten. Mit schneller Arbeit ist es aber nicht getan; mit Besessenheit und Perfektionszwang nur in Maßen. Man kann das Schiff vielleicht sogar auf hoher See ganz umbauen, aber nicht alles auf einmal (so der Philosoph der Selbstüberwindung). Der Umbau ist auch nicht der Sinn der Seefahrt.
XIV. Die Tugenden auf der Brücke
Die Gesellschaft lebt davon, dass unsere Talente verschieden sind, denn sonst bräuchten wir keine Gesellschaft. Und das, was für unsere handwerklichen oder geistigen Fähigkeiten gilt, gilt ebenfalls für unsere charakterliche Ausrichtung. Eine Ethik, die auf eine Verallgemeinerung hinausläuft (und das tun die meisten Moraltheorien) ist demnach grundlegend verkehrt. Für die Fälle, in denen eine Verallgemeinerung möglich ist, haben wir den Rechtsstaat und dessen Strafrecht; und bei weniger ausgeprägten Normen sind die ortsspezifischen Umgangsformen (die Sitten) und bei deren Verletzung die Ausgrenzung vollkommen hinreichend.
Wenn die Menschenmenge über die Brücke strömt, nimmt jeder zu jedem Zeitpunkt notgedrungen eine andere Position ein. Man könnte ein Kalkül erfinden oder entdecken, wie der Einzelne sich auf der übervollen Brücke sicher fortbewegt. Es leuchtet aber sofort ein, dass wir uns nicht bewusst nach einem Kalkül bewegen und die Ausarbeitung eines Kalküls unsagbar schwierig und strittig wäre.
Jeder erfindet für sich eine Strategie. Gehe ich nun in der Mitte durch, oder doch an der Seite der Brücke? Schnell und forsch oder langsam? Aber nicht zu langsam, sonst komme ich nie hinüber. Hat man mit der Muttermilch aufgesaugt, wie man’s macht. Die Strategie ist eingefleischt. Das nennt man, ob gelassen oder draufgängerisch: Charakter.
Beim Überqueren der Brücke gibt es immer welche, die ausscheren. Nicht in Reih’ und Glied. Oder trödeln. Dann müssen die anderen ihnen mal einen Schubs geben. Ist nicht schlimm. Gibt es auch bei der Steuerung von Industrieanlagen. Es kommt halt auf die Anlage — die Veranlagung — an.
Man kann nicht jede Tugend entwickeln, nicht wegen fehlender Kräfte, sondern weil die sich allmählich einschleifenden Eigenschaften sich beißen. Jede Tugend hat eine Schattenseite. Wir brauchen zum Beispiel Menschen, die mutig sind, aber auch welche, die zu Vorsicht mahnen. Großzügigkeit brauchen wir, aber Geiz ebenso. Sonst nimmt das eine oder andere überhand. Die Tugenden werden schnell zu Lastern. Die Laster braucht man, damit die Tugenden nicht entarten. So sehen auf einmal Gut und Böse, Gut und Schlecht, anders aus. Es kommt auf das Ausmaß, den Zeitpunkt und das Umfeld an.
Eine Strategie hat man irgendwann für sich einverleibt, und das verleiht Charakter. Eine Emotion, so kann man das aufflackernde Gefühl auffassen, ist ein Vernunftmittel, das Fleisch geworden ist (einmal einverleibt läuft die zur Regel gewordene Vernunft unbewusst ab). Zum Beispiel: Hat jemand einmal gelernt, dass die Wut öfters eine Lösung herbeiführt, hat er wenig Grund, die Gelassenheit zu pflegen oder vorzutäuschen. Sind alle wutanfällig, so wird diese Strategie wenig nützen. Und so weiter.
XV.
In welchem Maße sollen wir uns erlauben, moralische Urteile über andere Menschen zu bilden? Das tun wir doch — wenn auch nur halbbewusst und provisorisch — ständig. Es heißt zwar, man soll nicht über seine Mitmenschen lästern, und doch ist es richtig, dass wir uns ärgern und den Ärger untereinander kommunizieren. Es gibt zugegeben die Friedfertigen, die ihren Blutdruck schonen und zuweilen als weise und nachahmenswert gelten. Psychologische Experimente sollen aber herausgefunden haben, dass viele von uns doch bereit sind, unnötig Kosten auf sich zu nehmen, um asoziales Verhalten zu bestrafen. Und das wissen wir eigentlich auch ohne die Experimente. Könnte es sein, dass die Friedfertigen mit die gefährlichsten Mitbürger sind?
Der Gegenspieler des Gewissensmenschen ist der Opportunist, der eine besondere Gattung des Egoisten ist, zuweilen ein Psychopath. Dieser stellt sich freundlich und angepasst dar, so lange es ihm passt. Die Moralphilosophen und die Theologen führen Argumente gegen ihn an, die an ihm vorbeischießen. Betroffen von ihren Ausführungen ist nur der Gewissensmensch, denn dessen Selbstgefühl wird von einer Wahrnehmung der Anderen (auch der Anderen, die in seiner Vergangenheit mitspielten) und deren Urteile — wenn nicht ganz — so doch mitgeprägt. Der Gewissensmensch hat ein System der moralischen Urteile verinnerlicht und macht sich Vorwürfe, sobald er dieses missachtet. Der Opportunist ist anders geprägt und es nützt nichts, ihm zu predigen.
Es gibt Ausnahmesituationen, in denen der Opportunist der Allgemeinheit zuarbeitet: er soll nicht flächendeckend verteufelt werden. So muss ein Unternehmer, wenn der Anlass sich bietet, die Gelegenheit ergreifen; der General seine Chance sehen; der Liebhaber auch. Das können opportunistische Gesichtszüge sein, es müssen nicht gerade Opportunisten sein, die dieses Gesicht zeigen. Denn es ist niemand ganz Opportunist oder ganz Gewissensmensch. Im Nachhinein kann sich der Unverschämte rechtfertigen, oder auch nicht. Seine Einschätzung war richtig oder daneben. Es spielte das Glück mit, aber auch sein Judgement.
Wir gewähren ihm trotzdem keinen Freibrief. Im Allgemeinen richtet die Verhaltensweise der Opportunisten Schäden an uns an, und wir müssen uns schützen. Das tun wir als Gesellschaft aber immer weniger. Die Friedfertigen — die Angepassten — haben das Wort, und aus diesem Wort machen sie am liebsten eine Worthülse: „Man kann ja die Welt und die Menschen nicht ändern.“
Ist unser Rechtswesen auch nur zum Teil von Opportunisten unterwandert, so kann nicht einmal das Fundament der Gesetze groß für Abhilfe sorgen. Zur Rechtsprechung gehört nämlich auch — man darf sich wundern! — das Judgement, und wenn viele Richter und Anwälte in dieser feinen Kunst wenig geübt — oder charakterlich nicht sonderlich tiefgründig geschaffen — sind, so lässt sich viel Unfug stiften.
Den Opportunisten hält man nur auf, indem man ihm im Wege steht. Es hat keinen Sinn, sich groß auf Gerede einzulassen. Wie aber steht man ihm in einer anonymisierten Gesellschaft im Wege? Er zieht ja bloß weiter! Es geht ja auch nicht nur direkt um den Opportunisten. Wir leiden zudem unter den vielen, die in den Hierarchien aufgestiegen sind, indem sie sich brav an eine einfältige und meist feige Auslegung der Regelwerke gehalten haben. Der Begriff Judgement ist denen durch & durch ein Fremdwort.
Es versteht sich unbestreitbar: Das Recht und die Sitten müssten grundsätzlich so gestaltet sein, dass sie das Gedeihen der Gesellschaft insgesamt fördern. Insbesondere ist das Rechtswesen kein Zweck an sich, also auch kein Geschäft, das die Umsätze der Eingeweihten zu fördern habe.
Wenn nun hier die Behauptung vorgebracht wird, wir müssen nicht nur das im rechtlichen Sinne nachweisbare Fehlverhalten ahnden, sondern die Mitwirkenden auf ihren Charakter und good judgement hin überprüfen, so erscheint dieser Vorschlag zunächst wie ein Attentat auf die Rechtstradition überhaupt. Er ist es nicht: es handelt sich vielmehr um eine Vervollständigung. (So oder ähnlich der junge Mann aus Palästina.)
Können wir uns in der heutigen Welt weiterhin eine Ordnung leisten, in der leitende Angestellte, Manager, Arbeitgeber, aber auch Richter, Anwälte, Beamte nicht und niemals auf ihr praktisches Urteilsvermögen hin überprüft werden? Und zwar nicht durch einen undurchsichtigen Markt, der immer zu spät greift, wenn überhaupt; und gleichfalls nicht durch dubiose Disziplinarverfahren, von ihresgleichen durchgeführt; sondern indem eine Handvoll branchenfremder Bürger (die sich über ein paar Jahrzehnte hindurch mit Fleiß und Können in der Berufswelt oder sonst bewährt haben) das Verhalten der kleinen und großen Machtinhaber unter die Lupe nehmen und ein Ja oder ein Nein zum Weitermachen sprechen. Bei der Begutachtung des Judgements der Überprüften geht es nicht um einzelne Fehlurteile, die wir ja alle machen, sondern um das systematische Fehlen — oder auch Wegdrücken — eines Feingespürs für das, was richtig ist.
XVI. Dritter Wanderweg
Schauen wir uns dieses Wort Ethik und seine Abwandlungen — Moral, ethisch, rechtschaffen..., und die entsprechenden Negative, nämlich unethisch, unmoralisch, usw. — näher an. Begutachten wir es und seinen Gebrauch in der heutigen Welt. Schon das Wort begutachten enthält das Wörtlein gut, auf das es schließlich ankommt. Das heißt: Abgesehen von den Themen, die das Wort Ethik (im Gegensatz etwa zu Biologie oder Anthropologie) abdecken soll, enthält es auch eine Wertung und einen Aufruf und somit eine Stellungnahme des Sprechers.
Viele Argumente, die für die Ethik vorgetragen werden, heben die Vorteile der Kooperation hervor. Andere betonen das Denken in die fernere Zukunft hinein, d.h. die Folgen auf lange Frist. Dahinter steckt nicht zuletzt der Gedanke an zukünftige Generationen, wofür speziell das Wort Nachhaltigkeit geprägt wurde.
Vorhin wurde — in Anknüpfung an eine bestimmte Tradition — der Vorschlag gemacht, das Wort Ethik für die Erneuerung (Überprüfung und Abwandlung) der Moral zu reservieren, wobei die Moral die derzeitigen Sitten oder Gepflogenheiten einer Gesellschaft bezeichnet. Damit ist nur eine erste — relativ unwichtige — Abgrenzung getan.
Es handelt sich bei der Ethik in erster Linie um unser Verhalten den Mitmenschen gegenüber: Wie man mit sich selber umgeht, wird öfters ausgeklammert, obwohl man durchaus auch hier ethische Überlegungen anstellen kann. Ebenfalls ausgeklammert werden aus Gründen der Übersichtlichkeit viele religiöse Aspekte, soweit diese nicht den alltäglichen Umgang miteinander betreffen. Die Religion spricht nach dieser Auffassung allem voran in feierlicher Form die ersten und letzten Dinge des Lebens an, nämlich die Menschwerdung (die Segnung der Paarung, feierliche Namensgebung der Neugeborenen) und das Sterben und somit den Umgang mit der letzten Stunde und den menschlichen Überresten. Die großen Religionen stellen freilich außerdem eine wiederkehrende Feierlichkeit und Praxis (täglich, wöchentlich) dar, die zwar auf die Ethik einwirken kann, diese aber nur an zweiter Stelle betreffen. Somit dulden die großen Religionen stillschweigend viele Untaten, und dieses Schweigen ist ihnen nicht immer oder unbedingt vorzuwerfen. Die Streitpunkte entstehen vielmehr, wenn die Religion sich doch in die Ethik einmischt und dabei meist traditionelle Standpunkte vertritt, die an der Wirklichkeit vorbeigehen.
(Es handelt sich jeweils um eine mehr oder weniger nützliche wenn auch grobe Aufteilung. Bei anderen Kulturen und völlig fremden Sprachen werden die Schwerpunkte anders gesetzt und somit die Begebenheiten etwas anders aufgeteilt und beschrieben.)
Es kann die Frage gestellt werden, inwieweit der langen Sicht und der Kooperation der Vorrang gegeben werden muss oder soll. Diese sind dehnbare Begriffe, wie all diese Begriffe auch. So kann der Aufruf zu mehr Gemeinsamkeit Anpassungszwang bedeuten. Der Zwang hat mit Macht zu tun und will die Individualität der Anderen eindämmern oder instrumentalisieren. Die Individualität hat mit Identität zu tun. Erst durch unsere Vorstellung davon, wer wir sind und wie wir uns einzeln zur Allgemeinheit und zu unseren Nächsten stehen wollen, entstehen wir eigentlich als selbstbewusste Individuen mit eigener Identität.
So könnte man den Gedankengang lange wenn auch anstrengend fortsetzen. Hier reicht es festzuhalten, dass die Gleichung ethisch = kooperativ nicht unbedingt aufgeht, und auch die lange — sprich ethische — Sicht der Dinge immer unsicher ist, bis auf die Gewissheit der eigenen Vergänglichkeit.
Wenn einer mit ethisch eigentlich nur kooperativ meint, so wäre es der Klarheit dienlich, eben dieses und nicht jenes Wort zu verwenden. Entsprechend gilt, wenn ethisch stellvertretend für langfristig und nachhaltig gelten soll. (Es geht darum, Widersprüche, Verdecktes und somit nicht Ausgesprochenes aufzudecken.)
Ganz ohne die großen urteilenden Worte kommen wir nicht aus. Wir brauchen immer wieder ein Vokabular, mit dem wir unsere Entrüstung oder unser Lob aussprechen können, wenn diese weit abseits von Eigeninteresse entstehen. Angesichts der vorhergehenden Analyse: Wie können wir aber die Verwendung eines Wortes wie ethisch überhaupt noch inhaltlich und sachlich begründen?
Vorhin wurde die Vielschichtigkeit der Triebfeder unseres Verhaltens angesprochen und zwar im Zusammenhang mit unserem persönlichen Werdegang von Kind zum Erwachsenen. Auch aber unsere Instinkte haben sich im Laufe der Evolution ähnlich überlagert, um dann später selbst von einer sehr langen Historie des Werdegangs der Gesellschaft überlagert zu werden. Es haben sich somit unzählige Schichten der Instinkte, Intuitionen, erlernten Gebote, Verbote, Wahrnehmungen und Überlegungen gebildet, wobei ein Überblick kaum noch möglich ist, zudem diese sich ständig in die Quere kommen. Möchte man bei seinen Äußerungen über den menschlichen Umgang — überlegt — Bezug auf diese Masse an Schichten, Überlagerungen und Ahnungen nehmen, so kann man mit gutem Recht die wertenden Worte ethisch, moralisch, gut, böse, widerlich, verwerflich und desgleichen in den Mund nehmen, soweit man sich bewusst bleibt, diese von den Ahnen auszuleihen. Man soll sich unbedingt davor hüten, einfache Entsprechungen — wie diese oben beschrieben wurden — zu machen: Wer dies trotzdem tut, bringt den Beweis dafür, dass er kein Recht auf den Gebrauch der Begriffe hat; ebenso übrigens derjenige, der sich im Leben zu weit daneben benommen hat.
Diese Masse an halb verschollenen Schichten könnte man sich so erklären: Sie stellen den Nährboden dar, aus dem ein gedeihendes Miteinander entsteht oder entstehen kann und ohne den es kein Miteinander gibt.
Darunter befinden sich aber zuweilen Elemente, mit denen man nur sehr vorsichtig umgehen soll. Neben den Kohlen unter Tage, die in der Winternacht für Wärme sorgen, befindet sich Giftgas. Das Verbot von einst wandelt sich gelegentlich zum Gebot von heute, und umgekehrt. Somit hat alles Gewicht, und Gewicht will gewogen werden: Augenmaß, und Für und Wider.
Ein Beispiel: Lange in der Menschheitsgeschichte war es vielleicht richtig, oder auch schlecht zu vermeiden, möglichst viele Kinder in die Welt zu setzen. Bei der heutigen noch immer wachsenden Bevölkerungszahl und bei unserem Konsumverhalten dürfte es wenig strittig sein, dass das Gebot der Stunde eben nicht mehr in der Vermehrung unserer Spezies liegt.
XVII.
Ein Lieblingsangriffsziel der Moralisten ist der Egoismus. Aber auch hier ist Nachdenklichkeit geboten. Häufig ist das Gegenteil des Egoismus — der Altruismus nämlich — fehl am Platze. Viele Andere hegen eine ewige Erwartungshaltung, was man alles für sie oder, wenn nicht, dann direkt doch in ihrem Sinne (nicht) machen kann und soll. Dann wäre der Altruismus bloß die Befriedigung der Egos der Anderen: Diese stellen gerne Schuldscheine aus.
Eine Gleichung wird gemacht: Egoismus = Schlecht/Böse. Es werden gerne anderslautende Rechnungen ausgestellt. Eine andere heißt zum Beispiel: Nicht wagen = es an Mut fehlen lassen = Feigheit. (Als ob Besonnenheit hat mit der Sache nichts zu tun hätte!) „Wenn Du nicht so handelst, wie ich es Dir nahelege, so kann es nur daran liegen, dass Du selbstsüchtig / feige / faul / abartig / dumm .... bist.“
Wer allein auf das Lob der (gegenwärtigen) Anderen angewiesen ist, hat sich noch nicht gefunden. Wer auf das verinnerlichte Lob der Generation seiner Eltern angewiesen ist, hat sich von seiner Vergangenheit nicht befreit. (Wie seltsam dieser Vorwurf! Als ob man immer sich seiner Wurzeln zu entziehen hätte, um an eine wie immer geartet Freiheit zu gelangen...). Nur wer sich die Danksagung einer zukünftigen Generation erhofft, .... man kann die Gedankengänge lange fortsetzen.
Man kann das aber anders drehen. Solange wir uns im Kreise der Allgemeinheiten bewegen, kommen wir nur wenig vorwärts. Wir lassen uns immer wieder von Kurzschlüssen erfassen und so werden wir zu Opfern einer moralisierenden Rhetorik, die sich verselbständigt hat.
Im Leben sieht es anders aus. Wir haben unsere Gewohnheiten, die wir teils kennen, teils ignorieren, jeweils aber nur stückweise ändern können. Viele geben wir weiter an die neue Generation und, wenn wir nachdenklich sind, handelt es sich um eine bewusste Auswahl. Wir wirken aber auch auf unsere Mitmenschen nicht nur direkt ein, sondern auch dadurch, dass wir in der einen oder anderen Form Urteile über sie bilden und zum Teil danach handeln.
Wenn wir an uns arbeiten, lernen wir diese Urteile immer feinfühliger — differenzierter — zu bilden. Dazu gehört Selbstkritik, aber in Maßen. Wir schätzen ständig ab, wie das Niveau in der Umgebung — die Verhaltensweise der Anderen — steht. Steht der Pegel überall niedrig, so hat es keinen Sinn, uns um die Gradierungen im oberen Bereich zu kümmern. Man mag sich noch so gerne von der Masse abheben, zu weit nach vorne sollte man — und kann man — sich nicht vorwagen. In der Religion mag es etwas absolutes geben — für die Gläubiger versteht sich; in der Ethik geht es um ein Mehr oder ein Weniger, anders gesagt, um eine sensible Positionierung.
Man kann eine Anhebung des Niveaus anpeilen oder in schlechten Zeiten eine Absenkung verhindern wollen. Das tut man in erster Linie durch seine Haltung und in zweiter Linie, indem man auf Korrekturen zur Rahmenordnung hinwirkt. (Eine getrennte Rolle kommt den Eltern und Pädagogen zu, es geht aber hier um die jetzigen Generationen der Erwachsenen und nicht vordergründig der Folgegeneration.)
Somit kommen wir bei der Sache zu zwei wesentlichen Facetten der Ethik. Bisher ging es bei diesen Ausführungen hauptsächlich um eine Kritik an geläufigen aber meist oberflächlichen Denkweisen. Es ging um eine Warnung vor der „Ethik“ an falscher Stelle. Nun geht es zuerst um die Feststellung, wie es mit dem Umgang der Menschen miteinander in der Lebenswelt des Adressaten (von mir, von Euch) steht. Diese Feststellung — Einschätzung — muss jeder für sich machen beziehungsweise im Austausch mit den ganz wenigen Menschen, zu denen er diesbezüglich Vertrauen hat. Allgemeine Meinungen dazu kann man sich allerorts holen, die taugen oder wenig taugen; auch der Autor dieser Zeilen hat viele Meinungen, die aber nicht stimmen müssen. Und vor allem ist jede Lebenswelt etwas anders. Es heißt also: Diese Einschätzung muss man am Ende allein machen. Oder aber man passt sich den vorhandenen Begebenheiten an und macht sich gar keine Gedanken. Dann darf man auch nicht mitreden.
Die Einschätzung findet nicht einmal für immer statt, sondern sie wird immer wieder ein wenig korrigiert. Man muss beobachten, Erfahrungen machen, Risiken eingehen. Die Künste — allem voran die Literatur und Filme — können die Sensibilität erhöhen: der Großteil der "Philosophie" leider nicht, aber dafür bestimmte Bereiche der Psychologie (aber Vorsicht!). Jeder muss zudem für sich wissen, wie viel Aufmerksamkeit er der Einschätzung widmen will. Das ist dann auch eine Sache des Temperaments.
Man kann die Wichtigkeit dieser Einschätzung nachvollziehen, wenn man sich vorstellt, in ein anderes Land zu wechseln oder aber in ein vollkommen anderes Milieu im eigenen Lande zu gehen.
Getrennt von der (ethischen) Einschätzung ist eine zweite Facette, wo aber auch jeder auf sich angewiesen ist. Ging es bei der Einschätzung letztlich um eine allgemeine wenn persönliche Feststellung oder Ortung, so geht es hier um die im Alltag zu treffenden (meistens unausgesprochenen) Urteile über unterschiedliche Menschen. Es sei denn, dass man mit einem zuverlässigen Instinkt ausgestattet ist — und dies dürfte seltener vorkommen als die Überzeugung, über eine solche Intuition zu verfügen, — so gehört hierzu eine gewisse Beobachtungsgabe und Aufmerksamkeit, die nur in Kleinarbeit und beim Nachdenken und Austausch zu erzielen sind.
Erst jetzt, wo man den ethischen Stand seines Milieus im allgemeinen eingeschätzt hat und die einzelnen Personen ringsum in ihrer Verschiedenheit für sich einigermaßen zuverlässig einschätzen kann, ist man imstande, den eigenen Weg in Eigenverantwortung zu beschreiten. Dazu kann gehören, dass man nicht nur Haltung zeigt, sondern auch in manchen Situation unliebsame Urteile ausspricht oder eine sonst selbstverständliche Freundlichkeit oder Solidarität verweigert. Man ist dann aber in sich stark genug, um den Vorwürfen der Vielen oder der Einzelnen stand zu halten.
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