|
Nicht alles Gold, was glänzt
Die Goldene Regel wäre der Achtsamkeit kaum wert, wenn sie nicht immer wieder aufkreuzen würde, als ob kein vernünftiger Mensch sie anzweifeln dürfte. Es gibt aber nicht eine Goldene Regel, sondern mehrere, und diese Regeln über die Gleichstellung sind sich entsprechend keineswegs gleich. Man unterscheide grundsätzlich zwischen einer negativen und einer positiven Formulierung. Man tue Anderen nicht das an, was man selber nicht angetan bekommen will. Oder man verhält sich Anderen gegenüber, wie man selbst von ihnen behandelt werden möchte. Für eine Ethik geht die erste nicht weit genug, und die zweite zu weit.
Hier muss ich zunächst ausholen und eine „Gold Leaf“-Zigarette anzünden. Nein, es stört mich nicht, wenn auch Sie rauchen. Ich bin ja tolerant. Ich tue grundsätzlich niemandem das an, was ich selbst nicht gerne von Anderen hinnehme.
Jetzt verdreht sich der Anhänger der Golden Regel im Rauchnebel des Moralkriegs beim Versuch, die Falschanwendung der Regel zu erklären. So einfach geht das aber nicht. Man gerät an andere Konzepte, denn die Goldene Regel setzt voraus, dass bestimmte „Werte“ (Haltungen, Prioritäten) geteilt werden. Die Goldene Regel setzt eine Gemeinsamkeit oder eine neutrale Grundposition voraus, die aber selten gegeben ist. Man könnte auch von der Verträglichkeit oder Übereinstimmung der Ausgangspositionen sprechen. Eine Regel, die bei vergleichbaren Handlungen vor dem Hintergrund ähnlicher Ausgangspositionen gleiche Urteile verlangt, kommt einer Logikregel gleich, denn es geht allein um die Struktur des Urteils (oder, mutatis mutandis, des Gebots) und nicht um dessen Gehalt. Dieses wird dem Ermessen des Angesprochenen überlassen. Gegen die Regel als plumpe Vorkehrung gegen die Heuchelei ist nichts einzuwenden, sie sagt aber inhaltlich weiter nichts aus und reicht somit nicht hin, um eine ausgereifte Moral zu gestalten. Sie ist ein Satz wie das logische Axiom der Widerspruchsfreiheit. Damit erweist sich die Regel als reinste Rhetorik, Sprechblase pur.
Einige Formulierungen, bei denen doch ein wenig Gehalt zum Vorschein kommt, scheitern an naheliegender Kritik. So reduziert das positive Gebot „Gleiches mit Gleichem honorieren“ das menschliche Handeln auf Handel. Man kann die Anhänger der Goldenen Regel noch ein wenig provozieren mit der Formulierung „Auge um Auge, Zahn um Zahn“: gehört auch sie zur Goldenen Regel, und wenn nicht, warum nicht?
Das Vergeltungsgebot ist eher ein Vorläufer des Gesetzes, also ein rechtliches Prinzip darüber, wie weit man bei der Rache gehen darf. Im übertragenen Sinne dürfte im moralischen Umgang mit den berechnenden aber unberechenbaren Mitmenschen eher die Regel sinnvoll sein: „Zahn um Auge“, aber ab und zu mal „Auge um Zahn“ (damit keine Kalkulation aufgeht).
Ist die Goldene Regel noch zu retten? — Bei der Ethik nicht; bei der Politik eher, aber nur verkrümmt über Ecken. Denn der politische Begriff der Gerechtigkeit setzt sie ein wenig voraus. Gleichheit vor dem Gesetz ist ein Verfahrensgebot. Faktisch sind die Menschen immer ungleich, aber als Menschen ohne Eigenschaften zählen sie als gleich. Bei der ähnlichen Anonymität der Verteilungsgerechtigkeit gilt ebenfalls ein theoretischer Grundsatz: man stelle sich die Verteilung vor, die man bejahen würde, wenn man die eigenen Stärken und Schwächen sowie die eigenen Vorlieben nicht kennen würde.
Die Goldene Regel stellte einen Versuch dar, eine Geisteshaltung, die von jedem zeitweise und situationsabhängig gefordert wird, zu universalisieren. Man sieht den Sachverhalt etwas klarer, wenn man sich die Situation vorstellt, in der man ein moralisches Urteil fällt, anstatt eine Handlung aus der Sicht eines Handelnden zu betrachten. Man stelle sich einen Vorfall vor, über den man ein moralisches Urteil sprechen soll (ein Wort des Lobes, Tadels, eine weitergehende Missbilligung). Bei gleichen Umständen kann man gerechterweise die Handlung nicht anders beurteilen. je nachdem, ob sie von einem Freund oder einem Feind begangen wurde. Es gilt eben bei Gerechtigkeit das Gebot der Gleichheit bzw. der Gleichbehandlung.
Hier sieht man, wie das Gebot der Goldenen Regel sich verwandelt. Hinter ihr (in ihren verschiedenen Formulierungen) steckt ein anderes populistisches Gebot: Man soll (als Gerechter) nicht (egoistisch) Partei für sich und seine Angehörigen nehmen.
Man muss aber nicht immer gerecht sein; im Gegenteil: zuweilen darf man für sich Partei nehmen. Zum Beispiel, das eigene Kind als erstes aus dem brennenden Gebäude retten.
Man kann insbesondere die positive Formulierung der Goldenen Regel als Aufforderung lesen, altruistisch zu leben. Sie ist aber dergestalt unpräzise und überzogen, dass sie keine Grenze zieht, wo nun der Altruismus – die Nächstenliebe – aufzuhören hat. Sie ist somit eine Einladung zur Selbstausbeutung. Zum Glück fehlen ihr die Zähne: sie hat – so beschrieben – keinen Biss. Sie stellt aber trotzdem eine bösartige Irreführung für die Naiven, Großzügigen und Gutmütigen dar.
Diese müde Zweiteilung – Gegenüberstellung – egoistisch/altruistisch greift letztlich ohnehin zu kurz. Es ist zwar so, dass der Rückzug ins eigene Ich als Lebensstrategie auf Dauer nicht gelingt. Wenn man aber eben ins andere Extrem schlägt und nur noch für Andere lebt, so läuft man Gefahr, sich der Ausnutzung durch Egoisten auszuliefern (sich diesen aufzuopfern), was auch nicht Sinn der Sache ist, denn sie sind es meistens nicht wert und wissen nicht, das Geschenkte konstruktiv zu nutzen oder (etwa an eine nachfolgende Generation) weiterzugeben.
Hier wird gekontert, man habe mit Anderen (moralisch) ebenso streng vorzugehen, wie mit sich selbst, eben damit sie keine Egoisten bleiben. Ob das gelingen kann? Darf man die eigene moralische Perspektive den Anderen aufzwingen? Wo bleibt da deren Selbstbestimmung?
Das Szenario ist ohnehin lebensfremd, denn die Erfahrungen – ob gut oder schlecht – spielen sich in der Zeit ab, es würde somit Geduld dazu gehören, um sich vorzutasten, und man kann sich höchstens einigen wenigen zuwenden. Das Gebot „Man liebe den Anderen wie sich selbst“ gilt nicht als Goldene Regel, wird aber praktisch mit dieser in Verbindung gebracht und ist ihr gedanklich verwandt. Letztlich will das Gebot unsinnigerweise die Grenzen zwischen dem Ich und den Anderen aufheben.
Die Moral läßt sich eben nicht in einem Satz – und auch nicht in drei oder zehn – zusammenfassen. Das negative Gebot wird gelegentlich als Minimalkonsens kolportiert, aber es ist nicht einmal dies, sondern Quacksalberei.
Die Aufforderung, nicht dergestalt egoistisch zu sein, ist – natürlich, trotzdem – gelegentlich richtig. Aber gezielt, bei einem bestimmten Adressaten. Oder für sich selbst, als Korrektur, wenn man meint, dies ist es, was man an sich ändern muss. Sonst gehört diese Perspektive nur hin und wieder zur Ausgestaltung eines moralischen Feingespürs, als eine Zutat unter anderen. Die übertriebene – künstliche – Anstrengung, unegoistisch zu sein, geht zudem leicht schief. Insoweit ist auch ein qualifiziertes Altruismusgebot mit Vorsicht zu betrachten.
Die Goldene Regel kann man zuletzt als Aufforderung lesen, an die Sichtweise der Anderen zu denken und damit als Aufforderung zur Empathie.
Diese (wie auch die vorangegangenen Deutungen) könnte man aber weniger umständlich – und weniger missverständlich – ausdrücken. Denn wenn die Aufforderung einmal schlicht umformuliert wird, fehlt ihr die Unbedingtheit. Es gibt Situationen, in denen man die Sichtweise der Anderen bis zu einem gewissen Grad zu berücksichtigen habe. Es kommt aber auch vor, dass man diese wirklich nicht mehr berücksichtigen sollte.
Man kann freilich weiter gehen und sich Gedanken über die Einbettung des Ichs in seiner menschlichen Umgebung machen und daraufhin eine eigene Lebensorientierung entwickeln. Je weiter man sich in Richtung einer ausgereiften Ethik fortbewegt, desto mehr aber entfernt man sich vom haltlosen Gemeinplatz einer Goldenen Regel.
Dieses abschließende Urteil betrifft nicht so sehr die Verstorbenen, die sich beim Vortasten über die Jahrhunderte geirrt haben, als die halbklugen Zeitgenossen, die aus Faulheit, Bequemlichkeit oder vorsätzlicher Ignoranz gedacht haben, die Regel aus dem Grab holen und instrumentalisieren zu dürfen: zum Beispiel im Jahre 1993 bei der politisch motivierten Erklärung des Weltparlaments der Religionen zum „Weltethos“.
© 2013 Paul Charles Gregory
www.klasseverantwortung.com
 |
|
|